Linguistically Speaking

Schöne Geschichten und schöne Leichen

Ich hab letzte Woche Agnes von Peter Stamm gelesen - kennt das jemand? Ich fands sehr eindrücklich, toll geschrieben. Aber auch verstörend. (Achtung, Spoiler über den Inhalt...)

Das Buch beginnt schon mit dem Ende der Geschichte:
Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet.

Und zwar die Geschichte, die der Erzähler über und für sie geschrieben hat.

Was mich vor allem ge-/verstört hat, war nicht mal so sehr die Geschichte selbst (obwohl ich auch die sehr eindrücklich fand - ich bin durch Literatur auch ziemlich beeinflussbar), sondern die Beurteilung auf dem Klappentext:
"Eine der schönsten Geschichten, die in letzter Zeit ein junger Schweizer geschrieben hat" - Die Zeit

Eine schöne Geschichte, das? Eine tote Frau, eine schöne Geschichte? Erinnert mich sehr an Edgar Allan Poes Ausspruch
"The death of a beautiful woman is, unquestionably, the most poetical topic in the world" (The Philosophy of Composition, 1846).

Auch das find ich verstörend. Warum muss es eine schöne Frau sein? Warum funktioniert ein schöner Mann nicht gleich? Warum ist es schön, wenn eine Frau stirbt? Wäre es im obigen Fall auch dann eine schöne Geschichte, wenn ein Mann sterben würde?

Es ist eindeutig Zeit, endlich mal Bronfens Nur über ihre Leiche zu lesen. Liest jemand mit?

Kleiner Appetizer:
Der weibliche Körper, dem alles Leben entspringt, wurde gleichzeitig zum Anderen der Kultur stilisiert - ein dunkler Kontinent der zerlegt, beherrscht und domestiziert werden darf, eine Alterität, die überwunden, ausgelagert oder abgesondert werden soll. Der Tod des Weiblichen entpuppt sich somit als besonders tragfähige Denkfigur für den Triumph der Kultur über die Natur (Vorwort zur Neuauflage 2004, V).

(Ich bin immer etwas skeptisch bei so Verallgemeinerungen über "die Kultur", bin aber sehr gespannt, wie sie das alles aufzieht und begründet - und einen wie allgemeinen Anspruch sie überhaupt hat.)
sarin1a - 20. Aug, 12:57

Longest comment ever

Wir mussten das Buch im Gymnasium lesen, weil der Herr Stamm zur Lesung kam. Unglücklicherweise liessen diverse Lehrer durchblicken, dass sie ihn für einen C-Autoren hielten, was uns dann auch übermässig kritisch machte ("Sie, die andere chömed de Walser und de Hürlimann über und mir de Stamm! Das isch doch gemein.") Tatsächlich finde ich das Buch zu einfach gestrickt, sprachlich fand ich es oft zu banal, letzlich hat mich diese Klarheit an Ausdruck aber beeindruckt, ich hab es gern gelesen. So gesehen fand ich es eine schöne Geschichte, vielleicht auch weil mich ihr Tod nicht weiter beeindruckte.
Der Einwand ist allerdings berechtigt, ich habe auch nie verstanden, warum Ophelia in Hamlet, die im Stück ja kaum Relevanz hat, so oft aufgegriffen wird, vor allem in der Malerei. Dem Leiden wird ja gern Ästhetik zugesprochen, nicht zuletzt wegen dem Mitgefühl, das empfunden wird, und der Intensität des Eindrucks. Dass zur Darstellung von Leiden oder gar Tod Frauen bevorzugt werden, könnte mehr mit der Unterdrückung des Mannes als derjenigen der Frau zusammenhängen: Der Mann muss Stärke zeigen, bei ihm ist der Tod kein zerbrechen der zierlichen Seele sondern ein Versagen.
Die Lesung war übrigens sehr gut. Stamm gab (ganz anders als Walser) präzise und kluge Antwortenauf teils weniger kluge Fragen, ich habe mir darauf noch ein Buch gekauft, es aber bis jetzt nicht gelesen. Ausserdem, wenn man ihn beim Einkaufen mit seinem Sohn reden hört, muss man ihn einfach mögen.

si1ja - 20. Aug, 13:37

Von der Rezipientenseite habe ich den weiblichen Tod noch gar nie so betrachtet (d.h. bezueglich des Mitgefuehls, das du ansprichst). Diesem Argument tritt aber gewisserweise das Konzept der Katharsis von Aristoteles entgegen, das ja auch auf dem Ausloesen von Furcht und Mitleid beruht, allerdings entsteht hier das Mitleid hauptsaechlich angesichts des tragischen Schicksals des unschuldigen maennlichen Helden. Weibliche Charakteren wurden haeufig gar nicht als genug 'tragisch' betrachtet um dieses 'edle' Mitleid zu erregen (spekuliere hier). Dem Aspekt des Versagens stimme ich uebrigens zu, aber auch hier finden sich Ausnahmen, beispielsweise im griechischen Heldentod. Auf jeden Fall aber wird selbst dieser Heldentod nicht so haeufig erotisiert wie der weibliche Tod.

Barbara: Wuerde sehr gerne Brofens Nur ueber ihre Leiche lesen - allerdings aus der Bibliothek, ist mir momentan noch etwas zu kostspielig ;-).
barbara... - 20. Aug, 17:29

@sarina: die einfache Sprache hat mir gerade gut gefallen, fand auch, sie passte gut. Das Buch ist als Beispiel für Bronfens These vielleicht auch nicht wirklich geeignet - Agnes' Tod wird ja überhaupt nicht beschrieben, Leiden sicher nicht betont (das Ende ist sogar mehr oder weniger offen). Bleibt halt die Frage, was ein "schönes" Buch denn genau ist... Ist ein gutes Buch automatisch ein schönes? --bleibt aber letztendlich wohl eine Frage von individuellem Sprachgebrauch.

Wie spricht der Herr Stamm denn mit seinem Sohn??

Dass die schönen Leichen mit der Unterdrückung des Mannes zu tun haben, find ich eine faszinierende These - hab ich mir auch noch nie überlegt (ja, das könnte der feministische bias sein :-)). Ob aber der männliche Tod immer ein Versagen ist? Wie ists mit dem heldenhaften Selbstopfer? Oder Jesus? (Jesus ist scheinbar auch im Bronfen-Buch ein Thema, zunindest in Abgrenzung. Hab aber erst die ersten paar Seiten gelesen...)

@silja: glaube auch, dass die Erotisierung da eine wichtige Rolle spielt - sind sterbende Männer vielleicht nicht schön, sondern einfach nur tragisch?
Und sehr cool, dass du mitliest!!
sarin1a - 22. Aug, 16:54

Mir ist eben eingefallen: Wilbour wants to kill himself ist ein wunderschöner Film, besonders schön auch der Tod von Wilbours Bruder.
barbara... - 23. Aug, 20:24

hm, das wäre ein interessantes Experiment - bin nicht sicher, ob ich je von einem Tod sagen würde, er sei schön (bin ein wenig nekrophob...)

 
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