Linguistically Speaking

Wednesday, 8. March 2006

Christa Wolf zu griechischen Mythen

CW geht davon aus, dass die griechischen Mythen (vor allem ihre Frauenfiguren wie Kassandra oder Medea) Spuren eines grossen Gesellschaftlichen Umbruchs tragen:

"Eine tiefgreifende Umwälzung der Produktions, Lebens-, Verwandtschaftsverhältnisse hatte stattgefunden, über hunderte, vielleicht tausende von Jahren, die Frauen, einst gleichgestellt, waren in eine untergeordnete Stellung geraten [...]
Eine Jahrtausendzeit, in der die ehrfuchtgebietenden Erd- und Fruchtbarkeitsgöttinnen von männlichen Göttern, schliesslich vom Götterhimmel des griechischen Olymp abgelöst wurden; aber diese oft gewaltsame Ablösung geistert in und hinter den Geschichten des Mythos weiter" (13/14).

Ich finde diese Sichtweise faszinierend, war aber immer auch skeptisch - steckt dahinter nicht auch ein Wunschdenken nach einer Ur-Zeit, in der alles besser war? Der Kampf für Gleichberechtigung wird damit auch zu einem Zurückgewinnen der ursprünglichen Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern.

Jetzt habe ich aber heute Aischylos' Orestie gelesen - und deren Schluss macht CWs Punkt für mich sehr viel plausibler. Kurzfassung der Geschichte: vor dem trojanischen Krieg opfert Agamemnon seine Tochter Iphigenie, um günstige Winde für die Fahrt nach Troja zu erbitten. Seine Frau Klytemnestra ist darüber so empört, dass sie ihn nach seiner Rückkehr zehn Jahre später ermordet; sie selbst wird dafür von ihrem Sohn Orest umgebracht. Im Schlussteil der Trilogie wird Orest der Prozess gemacht. Parteien sind der angeklagte Orest und der Gott Apollo, der ihn (unter Androhung von wüsten Strafen) zur Rache seines Vaters aufgefordert hat; auf der Anklageseite sind es die Erinnyen, alte, dunkle Frauen, Rachegöttinnen, die darauf beharren, dass der Muttermord schwerer wiegt als der Gattenmord, weil es ein Mord an Blutsverwandten war.
Das Gericht spricht Orest frei; die Begründung:
"Die Mutter bringt, was uns ihr Kind heisst, nicht hervor.
Sie ist nur frisch gesäten Keimes Nährerin,
Der sie befruchtet, zeugt. ...
Es gibt auch ohne Mutter Vaterschaft" (658ff.)
--und zwar ist die Göttin Athene (die Schiedsrichterin) direkt aus ihrem Vater Zeus entstanden.

Folglich sind Mütter nicht so wichtig, und sie umzubringen ist nicht so schlimm.

Die Erynien kommentieren diesen Schiedsspruch wie folgt:
"Ihr spätgeborenen Götter [i.e., Apollo und Athene], weh!
Altes Gesetz
Reitet ihr nieder, entwindet es meiner Hand" (777ff.)

Da passt CWs Interpretation sehr genau drauf - der Zeitenwechsel ist nicht mal nur im Hintergrund des Mythos zu finden, sondern direkt dramatisiert.

Und ausserdem noch CWs Antwort auf die Frage, ob eine Rückkehr ins Matriarchat wünschenswert wäre:

"Wahrscheinlich hat es ein vollkommen ausgebildetes Matriarchat als 'Frauenherrschaft' nie gegeben, und ein Zurück in so frühe undifferenzierte Verhältnisse gibt es sowieso nicht. Wir können nur versuchen, die Erfahrung der Jahrtausende beachtend, weiterzugehen. Es muss also immer selbstverständlich werden, dass der männliche und der weibliche Blick gemeinsam ein vollständiges Bild von der Welt vermitteln." (52)

(CW-Zitate aus Christa Wolfs Medea. Voraussetzungen zu einem Text. 1998: Gerhard Wolf Janus Press, Berlin.)
 
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